Gegen 21.30 fällt der erste Schuss. Willem Cloete ist sofort tot und in den folgenden Stunden sterben neun weitere Menschen, 44 werden verletzt. Es ist die Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1959. Eine Gruppe schwarzer Namibier hat sich in Windhoek versammelt, um gegen die Pläne der Stadtverwaltung zu protestieren, aus Windhoek eine „weiße“ Stadt zu machen.
Der Widerstand ist zwecklos. Genauso skrupellos, wie der Protest beendet wurde, wird in der Folge auch die Zwangsumsiedlung durchgesetzt. Bislang lebt der Großteil der schwarzen Bevölkerung nahe des Stadtzentrums im Gebiet „Alte Werft“ (heute Hochland Park) und kann am Stadtleben teilnehmen. Das ändert sich jetzt. Zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, durch Ödland getrennt, entsteht Windhoeks Township Katutura – der Name stammt aus der Sprache der Herero (Otjiherero) und bedeutet übersetzt etwa „Ort, an dem wir nicht leben möchten“. Die Verwaltungspläne sehen auch eine Trennung der in Namibia heimischen Stämme Ovambo, Herero und Damara vor. Jedem Stamm wird ein Bezirk in der neuen Siedlung zugeteilt – jahrelange Nachbarschaften werden getrennt, Familien teilweise auseinander gerissen. „Die Apartheids-Regierung wollte damit Spannungen unter den Gruppen schüren“, erklärt Willy, während wir auf der Hans-Dietrich Genscher Street durch Katutura fahren. Er ist hier groß geworden und lebt heute noch hier. Mehrmals die Woche führt Willy Touristen durch seine Heimat. „Solange die Stämme untereinander streiten, lehnen sie sich nicht gemeinsam gegen die Regierung auf, war der Gedanke“.
Der Plan geht nicht auf. Es dauert zwar bis 1990, aber letztendlich erkämpfen sich die Stämme gemeinsam die Unabhängigkeit von der Mandatsmacht Südafrika und beenden die Apartheid. Seither ist der 10. Dezember gesetzlicher Feiertag in Namibia und ein Grab im Hochland Park erinnert an das Massaker. Katutura ist so schnell gewachsen, dass es inzwischen nahtlos ins Stadtzentrum übergeht. Das ehemalige Armenhaus der Stadt hat sich zu einem der lebendigsten Stadtteile Windhoeks entwickelt – es gibt Schulen, ein Krankenhaus und seit 2005 ein Fußballstadion. Viele Bewohner haben sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten und sind Teil der Mittelschicht geworden. Sie sind stolz auf ihren Stadtteil. Willy erklärt, dass seit einiger Zeit auch Pläne existieren, ihn umzubennen: Aus Katutura soll Matutura werden – „Ort, an dem wir leben möchten.“
Ich freue mich noch über diese Erfolgsgeschichte, als ich bemerke, dass sich die Umgebung um uns plötzlich ändert. Wir erreichen den nordwestlichen Rand Katuturas. Eben noch säumten kleine Steinhäuser die Straße, jetzt sind es eher Steinruinen, in denen die Menschen leben. Und kurz darauf beginnt das, was ich bislang nur aus Nachrichten kannte: Wellblechhütten – so weit das Auge reicht. „Wie viele Menschen hier leben, weiß niemand. Die Schätzungen reichen von Zehn- bis Hunderttausend. Die meisten sind aus ländlichen Teilen des Landes gekommen, in der Hoffnung, ihr Glück in der Stadt zu finden. Die allerwenigsten schaffen es“, erklärt Willy. Die offizielle Touristen-Tour endet hier…