Gambia: Zwischen homöopathischem Gehörschutz und Schnoddernasen

Von Hanna Lohmann, März 2022, Gambia

Und dann bin ich mittendrin, im gambischen Gewusel.

Ganz nah neben, oft auf der Straße, kleine Kinder mit Schnoddernasen, aber ohne Schuhe, Ziegen, Rinder, Hühner; all das zwischen zahllosen Verkäuferinnen mit ihren Ständen, die besseren von der Sonne geschützt durch einen Schirm, der seine knallbunte Farbe vor vielen Jahren eingebüßt hat. Die einfacheren sind kaum mehr als der kleine Stapel mit Apfelsinen, Erdnüssen oder einem Haufen Holzkohle, den die Frauen vor sich aufgestapelt haben.

Ein Marktstand am Straßenrand.
Nicht wie im Text beschrieben Serrekunda. „Nur“ ein durchschnittlicher Straßenrand.

Stoßstange dicht an Stoßstange, dazwischen ein Eselkarren. Das sind zusammengeschweißte Gestelle mit groben Holzbrettern vernagelt, gezogen von diesen wunderbaren Langohren in improvisierten Geschirren und mit scharfen Trensen im Maul, die, anders als ihnen nachgesagt wird, gar nicht so störrisch sind, sondern extrem belastbar und klaglos. Weder das niemals endende Hupen der uralten Minibusse noch die riesigen Laster, die mit Kies, Sand oder Zement beladen an ihnen vorbeirauschen, bringt sie aus dem Tritt, verlässlich trotten sie immer weiter, bewegen unter den niemals endenden Schlägen ihrer oft kindlichen Herren schier unfassbare Lasten, stundenlang, tagelang, ein Eselleben lang.

Kein Profil auf dem Reifen, dafür gleich zwei Nummernschilder am Karren: aus Belgien und England. Spaß muss sein.

Neue Autos fädeln sich in den ewigen Stau ein, der Verkehr bewegt sich im Schneckentempo. Hier kreuzen Menschen wie nebenbei, schieben sich vor den verbeulten Motorhauben über die Straßen, im Zweifel klopfen sie kurz auf das in die Jahre gekommene Blech, um sicher zu gehen, dass der Fahrer sie bemerkt. Ein junger Bursche führt einen offenbar Blinden problemlos durch den Verkehr, es passiert nichts.

Diesmal.

Autogerippe am Straßenrand, auf dem Dach liegend, ausgebrannt, schlimm verformt, deuten daraufhin, dass es anders ausgehen kann, allerdings eher dort, wo der Verkehr fließt und Fahrer den Verkehr, die anderen Teilnehmer oder sich selbst überschätzen.

Jetzt aber fahren wir mitten durch Serrekunda, nicht die Hauptstadt Gambias, Banjul, aber vielleicht durch so etwas wie das Ruhrgebiet. Ein Haufen kleinerer Städte ist so sehr gewachsen, dass sie heute der größte Ballungsraum des kleinsten afrikanischen Staates sind. Hier ist die A40, morgens um 7, zwischen Essen und Bochum, nur ohne Autobahn.

“Toubaaaaaaaab” plärren die Kinder, sobald sie mich sehen; eine Weiße.

Der Markt mit seinen Lebensmitteln, Textilien und Tinnef ist riesig, nur die Wohngebiete, die sich drumherum reihen sind größer.

Sind das Slums?

Hütten aus einfachen Zementziegeln gemauert, die Dächer sind mit Wellblech gedeckt, Lücken in den Mauern mit dem selben Material gestopft. Vielerorts rostet es, ein Problem, aber kein so dringendes wie die Schulgebühren, die steigenden Preise für den Nahverkehr oder für Brot und Reis, dabei kann es bald anfangen zu regnen, dann drängt auch das Wellblech-Problem.

Warum wir zur geschäftigsten Zeit des Tages durch Serrekunda fahren, weiß ich nicht genau. Vielleicht um mich zu bespaßen (klappt!), vielleicht auch, weil mein Freund Tony drei Eimer, in denen einst Mayonnaise war und die jetzt mit irgendwas zwischen Erdnussbutter und fermentierter Milch gefüllt sein dürften, von Banjul zu seiner Schwiegermutter transportieren will. Die Schwiegermutter wohnt irgendwo in diesem Getümmel in einer Nebenstraße. Staubig ist der Weg hier und voller tiefer Schlaglöcher. Die schlimmsten hat die Nachbarschaft gestopft, mal mit Bauschutt, der so scharfkantig ist, dass er die oft spröden Reifen aufschlitzen kann, mal schlicht mit Müllbergen.

Überhaupt, der Müll!

Der Müll ist einfach überall.

Überall fliegt er rum, achtlos wird alles weggeschmissen oder schlicht mit Altöl übergossen und angezündet. Es gibt Schilder, die Europäische Union hat sie aufgestellt, die dazu aufrufen, nichts wegzuschmeißen, aber kaum Alternativen dazu. Plastikbeutel in Geschäften sind zwar seit einigen Jahren verboten und werden durch Papierbeutel ersetzt, aber PET-Flaschen, Dosen, Tütchen, in denen Trinkwasser oder Hibiskus-Eis angeboten wird, Autoreifen, Verpackungsmaterial, alte Zeitungen, in denen Brot eingeschlagen wird, Farb-Eimer, Lebensmittelkonserven, Netze und Planen finden sich an jeder Ecke – ganz anders als eine Option zur Entsorgung. Es ist deprimierend und führt vor Augen: Das Müllproblem der Weltmeere lösen wir vermutlich nicht allein mit dem europäischen Verbot von Wattestäbchen und Strohhalmen, die es hier selbst zu Bier gibt, mit all unseren Müllverbrennungsanlagen und Recyclingwerken. 

Seit der Pandemie hat die Julbrew-Firma geschlossen. Dort gab es einheimisches Bier, vor Ort gebraut, angeblich dem Reinheitsgebot folgend. Außerdem konnte man Coca Cola und andere Softdrinks in Glasflaschen kaufen. Jetzt sitze ich bei einem “Cristal” am Strand, es stammt dem Aufdruck nach aus Portugal. Es ist die einzige Option zu Guiness und einem No-Name-Dosenbier, das sie aus Deutschland importieren. Bei der Flasche habe ich Hoffnung, dass sie nicht wie die leeren Dosen hinter der Strandbar landet.

Cristal-Bier wird aus Portugal importiert.

Wobei… Die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Leergut nach Portugal zurück exportieren, ist wohl eher gering.

Ich könnte kein Bier mehr trinken hier.

Das wäre sicherlich einfacher umzusetzen, als meine fleischfreie Ernährung, die jedes Mal eine mittelgroße Diskussion auslöst. („Auch kein Fisch?” “Nein.” “Aber Schwein geht doch?” “Nee, das ist Fleisch.” “Achso. Also auch kein Ei?” “Doch.”)

Die Probleme sind andere in Gambia als in Deutschland.

Die Anreise ist eine Zwischenwelt, die Grenze vielleicht der Zwischenstopp in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Dort steigen gut die Hälfte der Passagiere aus. Senegalesen auf Heimaturlaub, Geschäftsleute, besonders aber fallen mir chinesische Mitreisende auf. Sie tragen passgenaue FFP2-Masken, manche zusätzlich Visiere und Schutzbrillen, Handschuhe. Sie lehnen das Mittagessen und die belgischen Waffeln ebenso konsequent ab wie jedes Getränk. Einige tragen diese weißen Overalls, die wir seit zwei Jahren aus Testzentren und sonst von der Seuchenbekämpfung oder aus Katastrophenfilmen kennen. Als ich meine Sitznachbarin nach einem Stift frage, um mein Einreiseformular auszufüllen, sagt sie sehr entschieden “No!”.

Zwischen Coronapandemie und beinahe Normalität liegen siebeneinhalb Flugstunden. In Gambia tragen eigentlich nur Polizistinnen und Polizisten, Soldaten und eine Handvoll weitere Menschen Masken, die meisten davon unter dem Kinn. Die katholische Kirche ist strenger und hat zum Beispiel Kommunionsfeiern ausgesetzt. Es scheint kein besonders scharfes Schwert im Kampf gegen die Pandemie, doch es scheint auch kaum wer Sorge vor Corona zu haben. Vielleicht ist das wenig überraschend, wenn Krankheiten wie Malaria den Alltag begleiten. 

Ganz anders steht es um die Ukraine. Putins Angriffskrieg wird rauf und runter diskutiert, im Fernsehen, im persönlichen Gespräch. Dass täglich tausende Flüchtlinge in Deutschland ankommen, beeindruckt die Menschen, die Berichte über die drohenden steigenden Lebensmittelpreise beunruhigen sie, natürlich.

In Banjul treffen wir an meinem ersten Tag einen anderen langjährigen Freund, Alieu. Wir trinken Instant-Kaffee und Tony und er diskutieren angeregt und wechseln dabei kontinuierlich zwischen den Sprachen Fulla, Wolof und Englisch. Ich bekomme mit, dass sie über die Nato, die Sowjetunion und Putin eine sehr konkrete Meinung haben, nur welche geht in dem Kauderwelsch unter. Ich verstehe viele Brocken aus den unterschiedlichen Sprachen, doch eher aus den Wortfeldern Frühstück (Ja, gerne!), Arbeit (vorhanden), Eltern (wohlauf) und Familienstatus (ungeklärt, ich tue aber so, also ob in trockenen Tüchern, um Vermittlungsgesuchen zu entgehen), denn geopolitische Weltlage. 

Ich habe keine richtigen Pläne für diesen ersten Tag in Gambia nach der Ankunft am Vorabend. Da bin ich ganz dankbar um Tonys Botengänge, denn das bedeutet, dass wir mit seinem Auto durch die halbe Küstenregion fahren und neben dem Weg ein Ziel zu haben scheinen. Wir passieren Polizei-Checkpoints, die Beamten sind zum Teil mit Schutzwesten, Helmen und sogar Schlagstöcken ausgestattet.

Das ist neu.

Irgendwas mit Stress und einer politischen Partei, erklärt Tony vage, es scheint Unruhen gegeben zu haben, aber nichts Großes. Nur diese auffälligen Staatsdienenden stehen eben an mancher Straßenecke, mit ihren Masken brutzeln sie zusätzlich zu den dunklen Uniformen in der Mittagssonne und winken mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung die Autos durch die Sperre.

In Banjul treffen wir also Alieu, der auf dem Nordufer des Gambia-Flußes lebt, gleich an der Grenze zum Senegal, aber irgendwie ist hier alles ziemlich grenznah, denn das ganze Land streckt sich nur wenige Kilometer nördlich und südlich entlang des Flusses, ist von der Atlantikmündung abgesehen komplett vom Senegal eingeschlossen.

Alieu fährt einen uralten Mercedes-Sprinter. Der Wagen ist zerbeult und die Hecktüren öffnen sich, indem er einen Zugmechanismus geschickt mit den schlanken Fingern bewegt, die Klinke fehlt schon lange, ebenso wie die kleinen Lämpchen, die mal das Nummernschild beleuchtet haben, Kabelsalat wuchert.

Alieu transportiert Lebensmittel, etwa Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln, von der einen Seite des Flusses mit der Fähre nach Banjul und nimmt über den einzigen Hafen importierte Güter mit zurück. Heute lädt er Dachlatten und Weizenmehl, importiert, irgendwoher. Er wird es weiterverkaufen an Zwischenhändler, die wiederum Bäckereien beliefern.

Das Brot, es ist teurer geworden, in den vergangenen Wochen. 10 gambische Dalasi, rund 18 Cent, kostet jetzt ein Laib, der aussieht wie ein Baguette. Die Regierung legt die Preise für Grundnahrungsmittel fest, damit sie nicht zu teuer werden.

Wie genau Importeure, Spediteure, wie man einen wie Alieu wohl nennen kann, oder gar Bäcker daran genau etwas verdienen – keine Ahnung. Ein Zentner Mehl kostet im Einkauf umgerechnet knapp 32 Euro, sagt Alieu. Etwa so viel wie in Deutschland, sagen meine Bäcker-Freunde in der Heimat. Alieu träumt von einem kleinen Lkw. Damit könnte er die Margen vergrößern, so sagt er. 

Bei Tonys Schwiegermutter angekommen ist Entschleunigung angesagt. Lange sitzen wir in ihrem Wohnzimmer und quatschen, wobei sich ziemlich längliche Geschichten oft wiederholen. Immerhin sprechen sie zwischendurch Englisch, ich kenne diese Besuche auch, wenn ausschließlich lokale Sprachen gesprochen werden. In Gambia ist es durchaus höflich, einen Gast auf ein möglichst wuchtiges Plastikledersofa zu verfrachten, den Fernseher mit schrillen Nigeria-Filmen anzuschalten und sich zu absentieren. Für mich eine ziemliche Horrorvorstellung, besonders wenn ich nur wenige Tage im Land verbringe.

Für Gäste aus dem weniger entwickelten Landesinneren ist das sicher das höchste der Gefühle in Sachen Gastfreundschaft. Immerhin gibt es dort, außerhalb der Küstenregion, vor allem Hitze, Armut, selten Strom und viel Arbeit in den Reisfeldern, wo die Moskitos im stehenden Wasser brüten und stechen und Krankheiten übertragen. Da dürften Ledersofa und übersteuernde Fernsehboxen in der Tat sowas wie Erholung bedeuten. Dazu gibt es Wasser, möglichst aus dem Gefrierfach. Mir ist das zu kalt, den Gastgebern ist das egal. Je näher das Wasser am Eis, desto größer die Gastfreundschaft, gilt hier offenbar, und ich trinke brav und muss davon etwas husten, so groß ist die Freundschaft.

Ich schnacke mit Regine, eine junge Frau, die Tony und seine Frau Claire bei sich aufgenommen haben, weil sie in der Gegend eine Ausbildung macht. Sie sieht wirklich sehr jung aus, später erfahre ich, dass sie an der Krankheit Sichelzellanämie leidet. Immer wieder bekommt sie schlimme Schmerzschübe. Immerhin bekommt sie Medikamente und angeblich die notwendigen Bluttransfusionen, wenn es ganz schlimm wird. Im Deutschlandfunk hörte ich kürzlich, dass in Europa und den USA Patientinnen und Patienten mit Stammzellen behandelt und möglicherweise geheilt werden können. Für Cecile wird es diese Option nie geben und das fühlt sich sehr ungerecht an.

Regine ist unglaublich motiviert und positiv eingestellt.

Sie möchte gerne Architektin werden. Wie diese Frau, die aussieht, als sei sie höchstens 16, was sicher krankheitsbedingt ist, sich in dieser ohnehin patriarchalen Gesellschaft auf dem Bau durchsetzen will, ist mir ein Rätsel. Auch die Tatsache, dass man in Gambia Architektur gar nicht studieren kann, schreckt sie nicht. Sie macht erstmal diese Ausbildung, die für mich etwas nach technischem Zeichnen klingt.

Abends, nachdem sie den Abwasch erledigt hat, sitzt sie mit meiner Taschenlampe zwischen Schulter und Wange geklemmt am Küchentisch und löst sehr konzentriert quadratische Gleichungen. Die Deckenlampe ist kaputt und obwohl wir am Büdchen an der Straßenecke eine neue Birne gekauft haben und Tony etwas, das an einen Sicherungskasten erinnert, aufgeschraubt hat, bleibt das Licht aus. Regine schreibt heute einen Test und sagt, wenn sich mehr Zeit hätte, würde sie Deutsch lernen. Denn irgendwer hat ihr erzählt, dass der DAAD Stipendien vergebe, wenn man nur einen guten TOEFL-Test, ein internationales Englisch-Zertifikat, vorlegen könne. Der Test koste aber 170 Dollar, etwa zwei durchschnittliche Monatsgehälter in Gambia. Einmal habe ihr Vater das Geld für sie gespart, vergangenes Jahr, kurz nach Ostern war das. Doch während sie den Test ablegen soll, wird ganz Gambia von einer fürchterlichen Nachricht erschüttert: Mary Mendy, eine 18-jährige Schülerin, soll vergewaltigt, ermordet und verstümmelt worden sein. Tatverdächtig ist ihr Onkel, der wurde am gleichen Tag tot in einem Brunnen gefunden, ein Strick um den Hals gelegt. Die Polizei habe die Ermittlungen gar nicht richtig aufgenommen, erzählt Regine den Tränen nahe, dabei gebe es doch deutliche Zweifel an dem Selbstmord des Onkel nach der mutmaßlichen Tat. Es folgen detaillierte Schilderungen über das typische Auffinden von Menschen, die sich erhängt haben, und später finde ich ziemlich genau diese Schilderungen in einem Artikel über dem Mord an Mary Mandy im Internet.

Dass Regine eine Freundin von Mary war, glaube ich sofort. Nicht nur, weil sie mir Fotos des Mädchen zeigt. Von Ostersonntag zum Beispiel, als sie in den Gottesdienst ging und ein Bild von ihrem neuen Kleid in eine Whatsapp-Gruppe schickte. Irgendwie kennt in Gambia jeder jeden und im Online-Artikel steht der Name der Schule, die Mary besucht hat. Es ist die gleiche, die Regine besucht hat. Auch Klein-Hanna, die 2007 nach mir benannt wurde, und inzwischen nicht mehr ganz so klein sein dürfte, geht dort zur Schule. Selbst überregional berichten Medien über den Fall Mary Mandy. Nicht nur ihr Name taucht überall auf, auch Details, die in deutschen Medien niemals über Verbrechen, besonders über (mutmaßliche) erweiterte Suizide, veröffentlicht würden, und persönliche Meinungen der Autoren zieren hier die Artikel. Ein Journalist beschreibt über die Hälfte des Artikels, wie er als Muslim sich angesichts des Mordes an dem christlichen Mädchens fühlt und rezitiert eine Geschichte aus dem Koran, in der Muhammed einst um eine Nicht-Muslima getrauert hat. Journalismus, das muss ich mir für die kommenden Wochen merken, funktioniert hier anders als daheim.

Apropos Journalismus.

Dafür bin ich hier.

Die Heinz-Kühn-Stiftung ermöglicht mir mit einem Stipendium den Aufenthalt in Gambia für sechs Wochen. Seit 2006 komme ich nach Gambia, zu Besuch, für Projekte, für Urlaube. Jetzt habe ich die Möglichkeit, das Land zu bereisen und seine Geschichten aufzuschreiben. Nach zwei Jahren Corona kann ich endlich hier sein. Ich habe das Privileg, das Land zu kennen. So wohne ich die ersten Tage bei Tony und seiner Frau Claire und eben Regine. Tony und Claire haben mich vor drei Jahren in Deutschland besucht und sind längst Freunde geworden. Doch der Alltag ist geprägt von kulturellen und ja, auch finanziellen Herausforderungen. Die Unterschiede zwischen unseren Heimatländern sind immens. Ich wohne bei den beiden und bin von ihrer Gastfreundschaft jede einzelne Minute beeindruckt. Sie kochen für mich vegetarisch und sind dabei völlig überzeugt, dass niemand, mich eingeschlossen, so satt werden kann. Tony verkündet trotzdem nach jeder Mahlzeit jetzt auch Vegetarier zu sein, ganz so, als mache ihn eine fleischfreie Mahlzeit dazu. “Alles überhaupt kein Problem,” versichert er dann. Und fügt hinzu: “Nur Busch-Schwein würde ich gern weiter essen. Und Fisch. Sonst… Kein Problem. Gemüse. Echt lecker.” Manchmal öffnet er Büchsenfleisch, während der das sagt.

Ich bekomme wahrscheinlich bald einen Cholesterin-Schock, weil Tony und Claire meinen Fleisch- und Fischverzicht mit Eiern kompensieren. Ich weiß, dass die beiden besser gestellt sind als beispielsweise viele Menschen im Landesinneren und doch führen sie ein Leben voll der Entbehrungen.

Er hat kürzlich seinen Job verloren, sie arbeitet in einer Bank. Neben ihrem eigenen Lebensunterhalt unterstützen beide ihre Eltern finanziell und müssen ihre sprichwörtlichen Flöhe jeden Tag beisammen halten. Claire studiert nebenher einen Master. Ich habe wenig Ansprüche, kann mich gut einfinden in ihr Leben. Kaltes Wasser in der Dusche? Egal. Keine Küche, sondern ein Gaskocher und etwas Sammelsurium statt Geschirr, na und? Ich teile mit Claire das Bett – ist doch nett, gestern haben wir ewig gequatscht. Trotzdem fühle ich mich manchmal fehl am Platz. Das Glas spanische Oliven, die irgendwo aufgetriebenen Kichererbsen, die Flasche Rotwein – das alles haben die zwei für mich besorgt. Nichts davon brauchte ich, ich schätze es als Geste.

Wenn ich dann aber einfach Lust habe, nach dem Schwiegermutterbesuch mit Regine und Tony an den Strand zu gehen und für nicht mal sieben Euro in einer super schönen Strandbar die beiden auf einen Saft und ein (aus Deutschland importiertes Dosen-)Bier einzuladen, bin ich hin- und hergerissen. Genießen die beiden das so wie ich? Oder überlegen sie sich gerade, wie viel Reis, Brot, Fleisch, Diesel oder Fahrgeld ich nebenbei für etwas ausgebe, was absolut nebensächlich ist? Ich weiß es nicht.

Wie wenig Zeit, Raum, Geld und Selbstwahrnehmung zwischen den Welten liegt, wurde nach dem Zwischenstopp in Dakar deutlich. Wir flogen nur noch halbbelegt die paar Kilometer weiter nach Gambia. Im Flieger: viele gebürtige Gambier. Ein Vater der seinem gelangweilten Vierjährigen auf Deutsch seit sechs Stunden versprach, dass es nun wirklich nicht mehr lange dauere und ihn anmeckerte, sobald er bei Turbulenzen vor Angst knatschte. Eine Frau, die seit zehn Jahren nicht in der Heimat war und der ich kurzfristig eine ihrer Taschen und ein Kleinkind abnehmen musste, damit sie überhaupt aussteigen konnte. Und europäische Frauen, die sich auf dem engen Flugzeugklo kurz vor Landung umzogen, ihre Jogginghose gegen gebatikte Kleider und Ethno-Fußkettchen tauschten, am Gepäckband laut Bob-Marley-Lieder sangen und tanzten und schließlich unter den Augen zahlreicher Einreisebeamter ihren deutlich jüngeren Boyfriends in die Arme flogen.

Eine dieser Frauen bemerkte einen weinenden Säugling im Landeanflug auf Dakar und versuchte der Mutter mit viel Aufhebens homöopathische Tropfen zum Gehörschutz beim anstehenden Start aufzudrängen. Die sichtlich überforderte Mutter stimmte schließlich zu und kaufte zeitgleich einen Vortrag über die Pharmaindustrie im Allgemeinen und die Wirkweise von Gehörschutz und Impfungen im Besonderen und tat mir ziemlich leid. Nur eine halbe Stunde später, vor der Landung wirkte das alles so absurd. Dort reihten sich eine Handvoll Rollstühle auf, darin Menschen mit den Folgen einer Polio, Kinderlähmung, bettelnd, ungelenk, ignoriert von den vorbei hastenden Ankömmlingen. Unter den Reisenden außerdem die Teenagerin, die sich von der Stewardess sehr ausführlich von einer Geburt an Bord eines Langstreckenflugs erzählen ließ, und die sich kurz vor der Passkontrolle ein T-Shirt überzog auf dem in großen Lettern “Volunteer for the Gambia” stand. 

Diese Gegensätze, ich muss mich erst wieder dran gewöhnen. Ich sitze in einer Strandbar, genieße den Blick auf den weiten Ozean, viel zu lauten Reggae aus den Boxen an der Bar und der Bluetooth-Box der Gäste hinter und der Handys der kiffenden Jungsgruppe vor mir, dazu etwas Natur. Dabei lässt mich ein Pfauenpaar nicht aus den Augen. “Der Besitzer mag halt Vögel,” sagt Musa, der Kellner und zuckt die Schultern. Vermutlich ist es ihm egal, ob hier Pfau, heimische Viecher oder Alpakas grasen und die Erdnüsse fressen, die ich gerade einer Frau mit großen Tablett auf dem Kopf balancierend abgekauft habe. Es ist halt etwas irre, was Toubabs, Weiße, in diesem Land tun. Egal, ob sie Volunteers sind, Batik-Kleider tragen, oder Pfauen halten. Oder eben portugiesisches Bier trinken, so wie ich.

Importierte Pfauen im Vordergrund, ein einheimischer Salamander auf der Bank dahinter.

Am Wochenende ziehe ich in ein kleines Apartment um. Das ist näher am Zentrum und ich bin nicht mehr auf Tony und sein Auto angewiesen, der die Tatsache, dass wir unzählige umbeschilderte Kreuzungen bis zu seinem Haus nehmen müssen, die ich niemals wieder erkenne, nutzt, um den ganzen Tag um mich herum zu helikoptern. Das ist sehr lieb, aber auch etwas anstrengend, weil ich mich so fremdbestimmt fühle.

Heute morgen hat er mir sogar das Frühstücksei gepellt.

Eigentlich wollte ich mir die ersten Tage zum Akklimatisieren gönnen und mir in Ruhe meine Themen und Gesprächspartnerinnen und -partner für die kommenden Wochen überlegen. Gerade erfuhr ich aber von einer Aktion bei der ehrenamtlich tätige, britische Tierärztinnen Straßenhunde kastrieren und impfen und einer Deutschen, die das ganze begleitet.

Sie lebt seit vielen Jahren in Gambia und hat mich eingeladen, sie zu begleiten. Das lasse ich mir natürlich nicht entgehen und bin gespannt, was ich morgen erlebe.

Ich werde berichten. 

Tony, Claire, Regine und Alieu heißen eigentlich anders. Ich habe mich entschieden, hier nicht ihre echten Namen zu nennen, oder Fotos zu zeigen. Sie sind Freunde und ich möchte nichts weniger, als sie vorzuführen, in dem ich ihren Alltag, an dem sie mich so bereitwillig teilhaben, öffentlich teile. Ich habe Namen gewählt, die es in ihren Communities gibt, drei sind Christ:innen, einer Muslim, wobei das in diesem Bericht keine Rolle spielt.